Neutrinos
Neutrinos sind die zahlreichsten massiven Elementarteilchen in der Natur. Seitdem Ihre Existenz vorhergesagt wurde faszinieren sie Physiker. Aufgrund ihrer
minimalistischen Eigenschaften sind sie entscheidende Teilchen für das Verständnis der Physik vom kleinsten Maßstab (Elementarteilchenphysik) bis hin zum größten Maßstab - dem Universum (Kosmologie).
Die Natur kennt vier verschiedene Kräfte die beschreiben, wie ein Satz von 12 Elementarteilchen der Materie, Fermionen genannt, miteinander interagieren. Drei von diesen Fermionen sind Neutrinos, von denen Jedes ein bestimmter Typ, auch Flavour genannt, ist. Die drei Wechselwirkungen der Teilchenphysik, nämlich die starke, die schwache und die elektromagnetische Wechselwirkung, dominieren unter vielen Phänomenen wie sich stabile Materie, wie wir sie aus unserem alltäglichen Leben kennen, bildet.
Neutrinos sind die einzigen Elementarteilchen der Materie, die keine elektrische oder starke Ladung tragen und daher blind für die elektromagnetische und die starke Wechselwirkung sind und somit nicht gebunden werden können. Im Kontext der Teilchenphysik nehmen sie nur an der schwachen Wechselwirkung teil. Dies machte Neutrinos zum prominentesten Kandidaten, um mit ihnen die Eigenschaften der schwachen Wechselwirkung zu untersuchen. Bisher endet diese Geschichte mit der erfolgreichen Herleitung des Standardmodells der Elementarteilchenphysik, welches die elektromagnetische, schwache und starke Kraft in einer Theorie vereint. Trotzdem haben Neutrinos nicht für die Teilchenphysik ausgedient.
Im Gegenteil, es ist die noch unbekannte Masse der Neutrinos, die der Schlüssel zu unserem Verständnis des Begriffs „Masse“ in der Natur sein könnte.
Zusätzlich gibt es als 4. Kraft die Gravitation, die im Vergleich zu den anderen Kräften der Elementarteilchenphysik und den dortig relevanten Abständen zu schwach ist. Aber auf astronomischen Entfernungen, bereits in einem sehr frühen Stadium der kosmischen Evolution, dominiert die Gravitation und es wird wichtig, wie viel die Teilchen wiegen und wie sie im Universum verteilt waren und sind. Plötzlich macht es einen enormen Unterschied ob das Neutrino nichts wiegt oder so leicht ist wie der milliardste Anteil eines Wasserstoffmoleküls.
Jahrzehntelang war nicht klar, ob Neutrinos massiv sind oder einfach keine Masse haben. Bis in dieses Jahrhundert hinein waren Physiker mit dieser Frage beschäftigt bis sie eindeutig verkündeten, dass Neutrinos tatsächlich massiv sind. Dies beruht auf der mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Erkenntnis dass Neutrinos oszillieren, d. h. die drei verschiedenen Neutrino-Flavour können ineinander übergehen. Eine unvermeidbare theoretische Voraussetzung für dieses Phänomen, das als Neutrinooszillationen bezeichnet wird, ist, dass die Neutrinoflavour einen Massenunterschied aufweisen. Sie müssen also massiv sein, aber andererseits verraten Neutrinooszillationsexperimente nichts über die absolute Massenskala. Jedoch ist es gerade diese absolute Massenskala, die den Einfluss massereicher Neutrinos auf die Physik und Kosmologie der Elementarteilchen bestimmt!
Ein näherer Blick auf die Massen der 12 Elementarteilchen des Standardmodells zeigt die besondere Rolle von Neutrinos (siehe Abbildung). Die zwölf verschiedenen Elementarteilchen sind in drei Generationen (manchmal auch Familien genannt), mit jeweils vier Teilchen, zusammengefasst. In jeder Generation lebt ein Neutrino. Die Neutrinos für den Moment beiseite genommen, sind die anderen Mitglieder der zweiten Familie signifikant schwerer als die der ersten Familie, und die dritte Generation ist wiederum signifikant schwerer als die zweite. Demnach würde man intuitiv erwarten, dass sich die Massen der Neutrinos im gleichen Bereich wie ihre anderen Familienmitglieder sammeln. Noch kennen wir die absoluten Massen der Neutrinos nicht, jedoch haben wir aus Experimenten gewisse Obergrenzen bestimmt. Und diese Grenzen zeigen deutlich, dass die Neutrinomassen mindestens um den Faktor 106 zu leicht sind, um in das erwähnte Bild zu passen.
Das Standardmodell der Teilchenphysik, das die gegenwärtigen experimentellen Daten sehr genau beschreibt, bietet keine Erklärung für dieses beobachtete Schema der Teilchenmassen. Insbesondere bietet es keine Erklärung für Neutrinomassen und Neutrinomischung. Dieser Befund gibt einer ungelösten Frage in der Elementarteilchenphysik neuen Schwung: Wie verleiht die Natur den Teilchen Masse?
Über das Standardmodell hinaus gibt es viele Theorien, die die Ursprünge von Neutrinomassen und -mischungen untersuchen. In diesen Theorien, die oft im Rahmen der Supersymmetrie arbeiten, erhalten Neutrinos auf natürliche Weise Masse. Um Neutrinomassen zu erzeugen nutzt eine große Gruppe von Modellen den sogenannten "See-Saw-Mechanismus". Kategorisch unterschiedliche Theorien basieren auf völlig anderen möglichen Ursprüngen von Neutrinomassen. Interessanterweise sagen einige dieser Modelle voraus, dass die Massen der drei verschiedenen Neutrino-Typen nahezu gleich sein sollten. Andere Modelle sagen voraus, dass die beobachtete Massenvariation zwischen den Nicht-Neutrinos-Mitgliedern der Familien auch für die Neutrinos vorhanden ist, d. h. die Neutrino-Flavour unterscheiden sich signifikant in der Masse.
Ein Experiment wie KATRIN beantwortet die Frage ob mindestens ein Neutrino-Flavour schwerer als 0,2 eV / c^2 ist und entflechtet diese hierarchischen und degenerierten Modelle. Diese Klassifizierung wäre ein Meilenstein für die Frage, wie die Natur den Teilchen ihre Massen verleiht.
Der größte Teil der Materiedichte des Universums liegt in Form von unbekannter dunkler Materie oder dunkler Energie vor. Ein Kandidat für dunkle Materie - der einzig bis dato bekannte- ist das massive Neutrino. Selbst bei Massen von nur 3 eV/c2 könnten sie etwa 20% der Masse des Universums ausmachen. Mit einer Empfindlichkeit von bis zu etwa 0,35 eV/c2 erkennt KATRIN entweder eine Neutrinomasse von kosmologischer Relevanz oder schließt (im Falle eines negativen Befundes) jeden signifikanten Beitrag von Neutrinos zum Materiegehalt des Universums aus und reduziert daher die Rolle von Neutrinos bei der Bildung großer kosmologischer Strukturen.