Implikationen massiver Neutrinos

Viele Jahrzehnte blieb es ungeklärt, ob Neutrinos massereich sind oder masselos sind. Zu beginn des 21. Jahrhundert wurde eindeutig verkündet: "Neutrinos haben eine Masse!".
Diese Aussage basiert auf den beobachteten Neutrino-Oszillationen bei denen Neutrinos eines bestimmten Flavours in einen Anderen oszillieren können. Für den Nachweis kosmischer Neutrinos erhielt Raymond Davis 2002 den Nobelpreis, gefolgt von Arthur McDonald und Takaaki Kajita, welche 2015 ebenfalls den Nobelpreis erhielten für "... the discovery of neutrino oscillations, which shows that neutrinos have mass.".
Allerdings verraten Neutrino-Oszillationen nichts über die absolute Masse der einzelnen Neutrinos, sondern nur über die Differenz Ihrer Massenquadrate. Neben den Masseunterschieden ist es vor Allem die absolute Masse der Neutrinos die von großer Relevanz für Elementarteilchenphysik und Kosmologie steht.

Gliedert man die 12 Fermionen des Standardmodells in drei Generationen zu je 4 Teilchen so sieht man, dass (ausgenommen der zugehörigen Neutrinos, Masse unbekannt!) die Teilchen der zweiten Generation um einiges schwerer sind als die der Ersten und wiederum die der dritten Generation schwerer als die der Zweiten.
Dies liegt die Vermutung nahe, dass auch die Neutrinos eine ähnliche Massendifferenz besitzen wie die übrigen Mitglieder Ihrer Generation zur Nächsten. Bis heute kennt man jedoch nur experimentelle Obergrenzen für deren Masse welche zeigen, dass Neutrinos mindestens einen Faktor 106 zu klein sind um in dieses Schema zu passen.

Obwohl das Standardmodell der Teilchenphysik eine sehr präzise Untermalung vieler experimentellen Daten liefert, kann es die Neutrinomassen und Neutrino-Oszillation nicht erklären. Dieser Befund verleiht einer ungelösten Frage der Elementarteilchenphysik neuen Schwung: "Welcher Mechanismus der Natur ist für die Masse von Teilchen verantwortlich?".

Über das Standardmodell hinaus gibt es viele Theorien, die die Ursprünge von Neutrinomassen  und -mischungen untersuchen. In diesen Theorien, die oft im Rahmen der Supersymmetrie  agieren, erwerben Neutrinos auf "natürliche Weise" Masse. Eine große Gruppe von Modellen nutzt den sogenannten "see-saw effect" zur Erzeugung von Neutrinomassen.  Andere Klassen von Theorien basieren auf völlig anderen möglichen Ursprüngen von Neutrinomassen. Interessanterweise sagen einige dieser Modelle voraus, dass die  Massen der drei verschiedenen Neutrinogenerationen nahezu gleich sein sollten. Andere Modelle sagen voraus, dass die beobachtete Massenvariation zwischen den Nicht-Neutrinos-Mitgliedern der Generationen auch für die Neutrinos vorliegt, d. h. Die Neutrino Flavours unterscheiden sich signifikant in Ihrer Masse!

Ein Experiment wie KATRIN kann die Frage beantworten, ob mindestens ein Neutrino-Flavour schwerer als 0,2 eV/c2 ist. Dies würde die hierarchischen, entarteten Modelle ordnen und lösen. Diese Klassifizierung wäre ein Meilenstein in Richtung der Frage, wie die Natur Teilchenmassen liefert.


Der größte Teil der Materiedichte des Universums besteht aus unbekannter Dunkler Materie oder Dunkler Energie. Ein Kandidat für die Dunkle Materie sind massive Neutrinos. Diese könnten zwar nicht den gesamten Anteil der Dunklen Materie erklären (Beschränkungen kommen hier u.a. von Modellen zur frühen Strukturbildung!), aber einen Beitrag zur bisher unerklärten Zusammensetzung der Dunklen Materie liefern. Selbst mit Massen von nur 3 eV/c2 könnten sie ungefähr 20% der Masse des Universums ausmachen. Mit einer Empfindlichkeit von bis zu 0,35 eV/c2 erkennt KATRIN entweder eine kosmologisch relevante Neutrinomasse an oder schließt (im Falle eines negativen Ergebnisses) einen signifikanten Beitrag von Neutrinos zum Materieinhalt des Universums aus und reduziert
damit die Rolle von Neutrinos bei der Bildung großer kosmologischer Strukturen.